The Collectors – Tech-Superfans & ihre Schätze – Teil 1: Der London Tamagotchi Club

15. Dezember 2025


9 Min. Lesezeit


James Balmont

Freiberuflicher Journalist

The Collectors ist unsere neue Serie über Menschen, die alte Technik nicht nur sammeln, sondern am Leben halten. Wir treffen Communitys, die mit jeder Menge Nerd-Liebe echte Freundschaften rund um alte Geräte aufgebaut haben. Zum Auftakt besucht James Balmont den London Tamagotchi Club und trifft auf eine Gruppe, die ihre digitalen Haustiere mit beeindruckend viel Herzblut großzieht.

In den ruhigen Straßen des Londoner Stadtteils Crouch Hill, in Kirchenräumen, in denen normalerweise Klavier geübt wird, erlebt ein Stück Retro-Technik gerade ein überraschendes Comeback. Hier trifft sich eine wachsende Community, die eine gemeinsame Liebe zu kleinen digitalen Haustieren verbindet, die für viele von uns eine entfernte Erinnerung an die Kindheit in den 90ern ist. Auch ich war mir sicher, dass das Tamagotchi schon längst ausgestorben wäre – zusammen mit Furby und den Urzeitkrebsen. Doch im London Tamagotchi Club wirken diese virtuellen Tierchen lebendiger denn je.

„Für mich ist das eine der besten Möglichkeiten, Leute kennenzulernen und Freundschaften rund um ein gemeinsames Hobby aufzubauen“, sagt Freya, 27, Gründerin des Clubs. „Es bedeutet mir viel, einen Raum zu schaffen, in dem Menschen zusammenkommen und ihre Leidenschaft teilen können.“ Auch für Mitgründerin Sara, 36, ist es das Gleiche: „Als ich Freyas Instagram-Seite gefunden habe, habe ich ihr sofort geschrieben. Wenn du Menschen triffst, die die gleichen Interessen haben wie du, fühlst du dich direkt zuhause.“

Das Tamagotchi: Der Weg vom Hype zum Comeback

Das Tamagotchi wurde erstmals 1996 auf den Markt gebracht.

Das virtuelle Haustier wurde ursprünglich 1996 vom Actionfiguren-Hersteller Bandai entwickelt. Es erhielt seinen Namen aus den japanischen Wörtern für „Ei“ (tamago) und „Uhr“ (uotchi). Das Spielprinzip ist schnell erklärt: Auf dem monochromen LCD-Bildschirm schlüpft ein kleines, verpixeltes Wesen aus einem Ei. Über drei Tasten wird es gefüttert, versorgt und bei Laune gehalten. So ein Tamagotchi braucht viel Aufmerksamkeit und so piept es regelmäßig (und laut), wenn es gefüttert, sauber gemacht oder einfach nur beschäftigt werden will.

Mit guter Pflege entwickelt sich das kleine Pixelwesen weiter und nimmt verschiedene Formen an. Wird es hingegen vernachlässigt, stirbt es – und auf dem Display erscheint ein Engel, ein Gespenst oder ein Grab. Für viele Kinder war das ein früher, überraschend direkter Kontakt mit dem Thema Vergänglichkeit. Zumindest bis jemand die Reset-Taste drückte und alles wieder von vorne begann.

Es dauerte kein Jahr, bis das Tamagotchi zu einem globalen Phänomen wurde, teilweise mit kuriosen Folgen. In Japan durften Bandai-Mitarbeitende keine Taschen mit Tamagotchi-Logo mehr tragen, weil man befürchtete, dass sie ihnen entrissen werden könnten. Und an britischen Schulen wurde das Spiel komplett verbannt, damit die Kinder sich auf den Unterricht konzentrierten, statt ständig ihre digitalen Haustiere zu füttern. Doch all das bremste den Hype nicht: Bis Frühjahr 1998 wurden weltweit über 40 Millionen Geräte verkauft. Die BBC erklärte diese Zeit sogar zum „Jahr des virtuellen Haustiers“.

„Es ist schön, etwas zu haben, das davon abhängt, dass ich es füttere und glücklich bin.“

Doch schon 1999 flaute der Boom ab. Die Nachfrage sank und Bandai musste sich neu aufstellen. Für viele war das Kapitel Tamagotchi damit abgeschlossen. Die kleinen Pixelwesen feierten jedoch im neuen Jahrtausend ein unerwartetes Comeback und blieben Teil der Popkultur, wenn auch deutlich unauffälliger als in den späten 90ern. Ab 2004 erlaubte es die Infrarot-Funktion der „Tamagotchi Connection“-Geräte, dass sich die Wesen treffen, heiraten oder sogar eigenen Nachwuchs erzeugen konnten. In Japan verkaufte sich das Nintendo-DS-Spiel „Tamagotchi Connection: Corner Shop“ mehr als eine Million Mal.

Emily ist stolz darauf, Mitglied des allerersten Tamagotchi-Social-Clubs in London zu sein.

2008 und 2009 folgten zwei Filme, danach lief die Anime-Serie Tamagotchi!  ganze 143 Folgen lang zwischen 2009 und 2012. Bis 2021 brachte Bandai immer neue Varianten heraus: mit  Kameras, colour LCD displays, smartwatch functionality, Farbdisplays, Smartwatch-Funktionen und Kooperationen mit Star Wars, Sonic oder Jurassic World. Als sich die weltweiten Verkäufe zwischen 2022 und 2023 dann sogar verdoppelten, war auch für die Tagesschau klar: Das Tamagotchi ist zurück.

Der London Tamagotchi Club

Der London Tamagotchi Club entstand 2024, nachdem Freya online auf den Toronto Tamagotchi Club gestoßen war. Heute zählt das kanadische Original rund 3.500 Instagram-Follower, und bei den Treffen kommen jeweils rund 50 Personen zusammen. „Ich dachte nur: Wow! Stell dir vor, es gäbe genauso viele Menschen in London, die einen Ort brauchen, um ihre Tamagotchis zusammenzuschalten“, erzählt Freya Back Market. Also begann sie, kostenlose Treffen im Zweiwochen-Rhythmus zu organisieren und zog damit Sammler:innen jeden Alters aus ganz Großbritannien an.

Die kleine Gruppe, die heute zusammengekommen ist, hat ein beeindruckendes Sortiment mitgebracht: von Vintage-Geräten der ersten Generation bis zu farbenfrohen Tamagotchi Paradise-Modellen. Dazu kommen Spin-offs wie Digimon (ursprünglich als „Tamagotchi für Jungs“ vermarktet) oder Littlest Pet Shop. Eine Teilnehmerin hat sogar ein umfunktioniertes Nokia N73 dabei, die dessen Infrarot-Funktion nutzt, wie sie mir sagt. Mitgründerin Sara ist diesmal nicht dabei; sie lebt inzwischen in Italien und besitzt nach eigenen Angaben über 200 Geräte. „Ich habe nicht einmal genug Platz, um sie alle auszubreiten und zu zählen“, sagt sie lachend im Video-Call.

Was macht das Tamagotchi für diese Fans so besonders? Für viele spielt Nostalgie eine große Rolle: Die meisten begegneten den kleinen Pixelhaustieren schon in ihrer Kindheit. Emily hat ihr erstes Modell mitgebracht – ein rosa Tamagotchi, das sie zum fünften Geburtstag von ihrem Vater bekam. Für sie fühlt es sich an, als wäre ihr „inneres Kind“ heute in Form dieses kleinen Geräts wieder im Raum.

Andere Mitglieder fühlen sich durch traumatische Erlebnisse aus ihrer Kindheit miteinander verbunden: Vicky, heute Animationsdesignerin für Marken wie Ferrari und Adidas, verlor ihr erstes Tamagotchi als Kind in der Garage. Newcomerin Lila, 22, erzählt, dass sie ziemlich geschockt war, als ihres in den See fiel und sie es dort „piepsend und schreiend“ zurücklassen musste. Doch die Faszination für Tamagotchis reicht weit über Kindheitserlebnisse und nostalgische Erinnerungen hinaus.

Vicky besitzt ein seltenes Tamagotchi, das sie als eine Zusammenarbeit zwischen Bandai und einer japanischen Fernsehspielshow beschreibt.

Design und Gameplay: „Für jede:n ein passendes Modell“

Das einfache Gameplay und die groben Pixelgrafiken weckten bei vielen Fans schon früh das Interesse an Technik. Und bis heute sind sie ein Einstieg in moderne, interaktive Medien. Auch Mark und Emily, die Game Design an Schulen und Universitäten unterrichten, schätzen die Geräte für ihre Klarheit. „Viele unserer Schüler:innen interessieren sich für alte Technik, von PlayStations bis zu 16-Bit-Sega-Konsolen“, erklärt Emily. „Wir spielen gemeinsam ein Game, schauen uns Grafik und Mechanik an und analysieren, warum es Menschen damals wie heute so fesselt.“

Auch Freya empfindet das Design der ersten Generation inspirierend: „Du hast ja nur dieses Display in Schwarz und Grün, auf dem sich ein paar Pixel bewegen. Wie die Figuren aussehen, muss du dir selbst vorstellen.“ Und sie ist damit nicht allein: Nintendo-Legende Shigeru Miyamoto sprach einmal über den überraschenden Einfluss, den die kleinen Geräte auf den Gaming-Markt hatten. Immerhin erschienen Pokémon Rot und Grün im selben Jahr wie das Tamagotchi und die Game-Boy-Spiele verkauften sich in den ersten sechs Monaten über eine Million Mal. „Während alle über die spektakuläre 3D-Grafik von Mario 64 sprachen, wurde Tamagotchi plötzlich zum Hit – ein winziger Schlüsselanhänger mit Figuren aus vielleicht 10 oder 20 Pixeln“, sagte Miyamoto 1999 in Kalifornien. „Damals dachte ich wirklich: Mario 64 hat dagegen verloren. Und das meine ich ernst.“

Die Tische in diesem Gesellschaftsclub sind mit allerlei Tamagotchi-Artikeln gefüllt.

Die große Auswahl an Designs, Farben und Varianten regt die Sammelleidenschaft an, ähnlich wie bei Briefmarken, Fußballtrikots oder Sneakern. „Die Farben und Designs sind einfach wunderschön“, sagt Freya und zählt ihre Favoriten auf: schwarz-weiße Kuhflecken, vierblättrige Kleeblätter, Sonnenblumen, Pfauenmuster und sogar Modelle in Buntglas-Optik. Dazu kommen seltene Editionen wie das Tamagotchi, das auf das Vicky so stolz ist: ein Gerät, das Bandai exklusiv in Japan auf den Markt gebracht hat und in Zusammenarbeit mit einer beliebten Gameshow entwickelt wurde. Oder das „Devilgotchi“ von 1998 aus Marks Sammlung, das heute echten Kultstatus hat. „Für mich ist es zur Hälfte die Ästhetik und zur Hälfte das Spielerlebnis“, sagt Lila. „Es gibt wirklich für jede:n ein Modell. Ich liebe es, die verschiedenen Shells zu sammeln.“

Fürsorge im Taschenformat

An einem anderen Tisch erzählt eine Person, dass ihr Tamagotchi seit unglaublichen 900 Tagen „am Leben“ ist – ein gutes Beispiel dafür, wie fürsorglich die Menschen dieser Community sind. „Ich habe Tiere schon immer geliebt und kümmere mich gern um etwas“, sagt Freya, die heute als Hebamme im Gesundheitswesen arbeitet. „Deshalb hat mich das Tamagotchi sofort angesprochen. Es ist schön, etwas zu haben, das von mir abhängig ist, aber ohne den Druck echter Verantwortung. Wenn ich eine Fütterung verpasse, weil ich auf Nachtschicht bin oder ich einen hektischen Tag hatte, bleibt das ohne reale Folgen.“ Als die Runde später darüber lacht, was so ein Tamagotchi nach einer Fütterung so hinterlässt, bin ich schon froh, dass die Geräte kein Geruchs-Feature haben.

So ein kleines digitales Haustier, das man in der Hand halten kann, hat noch einen weiteren Vorteil: Zwar sieht Vicky darin auch ein Mode-Accessoire und zeigt auf die Pins, Schlüsselbänder, Sticker und personalisierten Taschen mit Tamagotchi-Motiven. Gleichzeitig hilft das Gerät aber auch vielen dabei, ihre Bildschirmzeit zu reduzieren. „Ich war lange bei Pokémon Go dabei“, erzählt Mark, „aber irgendwann wollte ich einfach weniger am Handy sein. Ich hatte das Gefühl, mein Kopf läuft nur noch im Hintergrundmodus.“ Auch die persönlichen Treffen zeigen, wie sehr echte Begegnungen die Community stärken, und wie ein simples Stück Technik Menschen wieder zusammenbringen kann.

„Einsamkeit ist in London ein echtes Thema“, sagt Freya. „Und für neurodivergente Menschen wie mich ist es oft nicht leicht, ins Gespräch zu kommen. Deshalb tut es gut, einen Ort zu haben, an dem Menschen zusammenkommen, die nicht nur das gleiche Hobby teilen, sondern ähnliche Erfahrungen.“ Sara sieht das genauso: „Bei jedem Treffen – auch abseits des Tamagotchi – hat man das Gefühl, auf Menschen zu treffen, die einem wirklich ähnlich sind. Und das verdanken wir diesem kleinen Spielzeug.“

Alle Fotos wurden von Sam Dearden aufgenommen.

Kleiner Klassiker mit erstaunlicher Ausdauer

Als die Unterhaltung im London Tamagotchi Club in ein vielstimmiges Piepen übergeht, schauen immer mehr Leute neugierig durch die Tür des Nebenraums. Kein Wunder: Auf Instagram entstehen inzwischen Dutzende neuer Tamagotchi-Clubs, von New York und Chile bis nach Polen und Singapur. Auch das Tamagotchi-Subreddit zählt fast 100.000 Mitglieder. Und selbst K-Pop-Star LISA postet mittlerweile Tamagotchi-Content. Alles deutet darauf hin, dass der kleine Klassiker kurz davorsteht, wieder richtig groß zu werden.

Für Tamagotchi-Superfans ist das Leben ein ewiger Kreis. Und die Szene wächst immer weiter. So wie die vielen farbigen, detailreichen Geräte die Besucher:innen in Crouch Hill miteinander verbinden, bringen diese Pocket-Pets auch heute Menschen aus völlig unterschiedlichen Lebenswelten zusammen, genau wie damals auf dem Schulhof. Offenbar kann selbst etwas so kurzlebiges wie ein Tamagotchi erstaunlich lange nachwirken. Deshalb wäre es kaum überraschend, wenn dieser Trend uns noch lange begleitet.

Geschrieben von James BalmontFreiberuflicher Journalist

James Balmont ist ein in London ansässiger freiberuflicher Journalist, der sich auf Arthouse-Kino, alternative Musik sowie Berichterstattung über zeitgenössische Kunst und Kultur spezialisiert hat. Er ist die Person, die Sie an Ihrer Seite haben möchten, wenn Sie während eines Pub-Quizabends Fragen zu Studio Ghibli haben.

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